Anforderungen und Persönlichkeit
Vor etwa zehn Jahren machte ein “Beurteilungsraster für Personalleiter” die Runde, “welche das Lachen (noch) nicht verlernt haben”! Es beurteilte in spaßig-lockerer, teilweise auch bissiger Form Persönlichkeits- und Verhaltensfaktoren wie z.B. Durchsetzungsvermögen und Belastbarkeit, Kommunikationsfähigkeit und Schnelligkeit (Aktivkraft) oder auch geistige Fähigkeiten - was immer damit wirklich gemeint sein mag - und Verhalten gegenüber Vorgesetzten. Die Nation lachte über Beurteilungen wie “verführt zum Feiern” (befriedigende Führungsqualitäten), “bricht Bleistifte ab” (Durchsetzungsvermögen, das im wesentlichen den Anforderungen entspricht) oder “schneller als Kegelkugel” (befriedigende Schnelligkeit).
Doch Scherz beiseite! Unsere Leistungsgesellschaft geht im Zeichen des wachsenden Kapitalismus’ leider immer noch davon aus, daß jeder alles erreichen kann, wenn er nur recht will. Wenn innerhalb der nächsten fünf Jahre das menschliche Genom vollständig erforscht sein wird, wird sich auch zeigen und nachweisen lassen, daß dies nicht stimmt! Menschen können nicht in gleichem Maße bestimmten gleichartigen Anforderungen gerecht werden, und trotzdem wird immer so getan, als ob dies doch so wäre. Wir sprechen zwar von unterschiedlichen Begabungen, unterentwickelter Kreativität, schneller oder langsamer Auffassungsgabe, doch andererseits wollen oder können wir nicht realisieren, daß nicht alle Menschen denselben Anforderungen gewachsen sind, und dies nicht, weil sie faul oder nichtsnutzig wären, sondern weil sie “unvermögend” sind, weil sie nicht können, aufgrund unterschiedlicher Prädisposition und ebenso unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten in teilelastischen oder vollelastischen Persönlichkeitsbereichen. Wir werden schon sehr bald unser Wertesystem umstellen müs- sen, wenn wir uns nicht der Böswilligkeit bezichtigen lassen wollen; wir werden die Frage der Schuldfähigkeit neu diskutieren müssen und wir werden ebenda mit Schuldzuweisungen vorsichtiger umgehen müssen und, nicht zuletzt, mit der Beurteilung von Leistung und Unvermögen der Menschen bzw. Mitmenschen. Es wird mehr darauf ankommen, die richtige Frau oder den richtigen Mann für eine Aufgabe auszuwählen, denn die Entscheidung trifft (auch heute) nicht der Ausgewählte, sondern der Auswählende, und der wird sich bei seiner Auswahl der notwendigen Kriterien oft ebenso wenig bewußt wie der Tragweite seiner Entscheidung. Was kommt in der Regel dabei heraus? Der Kandidat hat versagt, nicht der Entscheider! Fakt ist, daß mit den augenblicklichen Möglichkeiten (EDV-Rechner) die Komplexität der menschlichen Persönlichkeitsfaktoren und ihre vielfältigen Interdependenzen nicht vollends bzw. auch nur nahezu vollends erfaßt und dargestellt werden können. Daher wird nicht die Psychologie den entscheidenden Forschungsdurchbruch bringen, sondern die Genforschung, also die Medizin oder die Molekularbiologie, wobei viele Ergebnisse heutzutage geradezu in reißerischer Manier veröffentlicht werden. Es wird eine Zeit lang dauern, bis z.B.die Auffindung des “Romantik-Gens” oder des “Gens der guten Verdauung” nicht mehr einzeln erwähnenswert erscheinen, sondern in den Gesamtzusammenhang gelassener eingeordnet werden. Dies trifft vor allem auf die alten Bundesländer zu, auf welche sich die Investoren wieder mehr und mehr zu konzentrieren scheinen. Die Hypothese lautet: Im Wesentlichen kann man die zum Persönlichkeitsbild eines Menschen gehörenden Faktoren in drei große Bereiche einteilen: in den Bereich der prädisponierten, im künftigen Leben nicht mehr veränderbaren bzw. beeinflußbaren Faktoren in den Bereich der teilelastischen Faktoren, die in gewissen Grenzen durch Umwelt und Erziehung verändert werden können in den Bereich der vollelastischen Faktoren, die sich zwischen zwei Extrema vollständig hin und her bewegen können. Wenn man sich an einigen der für die äußere Darstellung des menschlichen Persönlichkeitsbild relevantesten Persönlichkeitsfaktoren orientiert, so kann man z.B. folgende grobe Zuordnungen vornehmen: In die erste Kategorie der fixen Prädisposition müssen vermutlich vornehmlich folgende Faktoren eingeordnet werden: Sachorientierung und Gefühlsbetonung Aktivkraft und Schüchternheit Belastbarkeit und Empfindsamkeit Offenheit und Strategieverhalten Traditionsgebundenheit und Fortschrittlichkeit Anpassung und Entscheidungsfreude Der zweiten Kategorie der teilflexiblen Faktoren können wahrscheinlich die nachfolgenden Faktoren zugeordnet werden: Kontakt- bzw. Kommunikationsvermögen Dominanzstreben und Kooperationsbereitschaft Optimismus und Skeptizismus Kreativität und Phantasie Disziplin und Ordnung Die dritte Kategorie der vollelastischen Persönlichkeitsfaktoren könnte u.a. folgende Faktoren enthalten: Selbstbewußtsein und Furchtsamkeit Entspanntheit und Nervosität Natürlich bedarf es bei all den genannten und - natürlich - bei den hier nicht aufgeführten Persönlichkeitsfaktoren präziserer Definitionen. Doch umfangreiches Gesprächs- und Testpotential haben in ihrer Auswertung ergeben, daß man - Kenntnis der unauflösbaren Komplexität der menschlichen Persönlichkeit schon genügt, mit den wenigen Faktoren statistisch zu arbeiten, die oben zur Betrachtung herangezogen wurden. Da zudem die Forderung nach Vollkommenheit und Vollständigkeit aller Dinge auch im Hinblick auf das menschliche Persönlichkeitsbild eher ein unerfüllbarer Traum bleiben wird, da uns Menschen zur Darstellung etwa ebenso die Möglichkeiten und Mittel fehlen werden wie etwa in der Teilchenphysik, in der die Begrenzung durch das natürliche Beschleunigungslimit gegeben ist, wird das erforschte Genom zwar Aufschlüsse über die Persönlichkeit bringen. Doch sie werden lange Zeit eher das Aussehen eines Flickenteppichs haben. Man wird das Design erkennen und bestaunen, doch das Zusammenwirken wird, wenn nicht auf Ewigkeit, sehr lange dem menschlichen Blick verborgen bleiben!